Warum viele Frauen unter der Geburt explodieren – und warum das völlig normal ist
Ich sage es gleich vorneweg, so wie ich es mir damals selbst gewünscht hätte zu hören:
Wenn du unter der Geburt wütend wirst, schreist, fluchst oder das Gefühl hast, du verlierst kurz die Kontrolle, dann ist das kein Versagen.
Es ist ein Zeichen, dass dein Körper funktioniert.
Ja, wirklich.
Und trotzdem reden wir kaum darüber. Über Tränen schon. Über Angst auch.
Über Schmerzen sowieso.
Aber über Wut?
Da wird’s plötzlich still. Oder peinlich. Oder moralisch.
Dabei ist Wut im Kreißsaal kein Ausrutscher –
sie ist ein biologisches, neurohormonelles Hochleistungsprogramm.
Setz dich kurz. Ich erklär dir, warum.
Wut ist kein Gefühl – sie ist Energie
(und unter der Geburt sogar eine ziemlich schlaue)
In unserer Kultur wird Wut gerne als „negativ“ einsortiert.
Unreif. Unkontrolliert. Unweiblich.
Spätestens als Mutter soll man sie bitteschön im Griff haben.
Blöd nur:
Der weibliche Körper interessiert sich unter der Geburt nicht für gesellschaftliche Erwartungen, sondern für Überleben, Öffnung und Kraft.
Und genau hier kommt Wut ins Spiel.
Neurobiologisch passiert Folgendes:
Unter der Geburt schaltet dein Gehirn Stück für Stück vom Neokortex (Denken, Sprache, Kontrolle) in das limbische System und den Hirnstamm.
Das ist derselbe Bereich, der auch bei:
- Kampf-Flucht-Reaktionen
- Sexualität
- Trancezuständen
- archaischen Instinkten
aktiv wird.
Wut ist hier kein Drama – sie ist Treibstoff.
Adrenalin, Kontrolle & der Mythos
Jetzt kommt der Teil, den viele Geburtsratgeber lieber weglassen.
Ja, Oxytocin ist wichtig.
Aber: Ohne Adrenalin geht es auch nicht.
Adrenalin wird unter der Geburt dann ausgeschüttet, wenn:
- etwas zu schnell geht
- etwas zu viel wird
- eine Grenze überschritten wird
- dein Körper sich schützen will
Und genau hier kippt es oft.
Wut entsteht besonders dann, wenn:
- du das Gefühl hast, keine Kontrolle mehr zu haben
- dir jemand reinredet, während dein Körper „NEIN“ schreit
- du funktionieren sollst, während dein Nervensystem längst im Alarm ist
Das ist kein psychologisches Problem.
Das ist Physiologie.
Hochsensible Frauen: Wenn Reizüberflutung zur Explosion wird
Jetzt lass uns kurz ehrlich sein – unter uns.
Wenn du hochsensibel bist, dann läuft unter der Geburt noch eine zusätzliche Ebene mit.
Hochsensible Nervensysteme:
- verarbeiten Reize tiefer
- reagieren schneller auf Überforderung
- haben weniger „Puffer“ bei Dauerstress
Das bedeutet konkret im Kreißsaal:
- Geräusche sind lauter
- Stimmen dringen tiefer
- Berührungen können kippen
- jede Form von Fremdbestimmung wirkt stärker
Und irgendwann sagt dein System nicht mehr höflich:
„Das ist mir zu viel.“
Sondern:
„STOP. JETZT.“
In Form von Wut.
Nicht, weil du aggressiv bist.
Sondern weil dein Körper dich schützt.
Die unbequeme Wahrheit:
Wut unter der Geburt hat oft eine Vorgeschichte
Und jetzt wird’s spannend ... denn darüber spricht man noch seltener.
Studien aus der Psychotraumatologie zeigen:
Unverarbeitete Erfahrungen von:
- Kontrollverlust
- Grenzüberschreitung
- Ohnmacht
- früher Geburtstraumata
- medizinischen Eingriffen
- sexualisierten Erfahrungen
können unter der Geburt reaktiviert werden, selbst wenn sie „eigentlich längst verarbeitet“ schienen.
Der Körper vergisst nichts.
Wut ist dann keine Fehlfunktion –
sie ist eine späte Stimme, die endlich gehört werden will.
Warum viele Frauen sich nach der Geburt dafür schämen
(obwohl sie nichts falsch gemacht haben)
Nach der Geburt kommt oft der innere Film:
„Warum war ich so?“
„Das war doch peinlich.“
„So wollte ich nicht sein.“
Und hier liegt das eigentliche Problem: Nicht die Wut.
Sondern die Bewertung danach.
Viele Frauen bekommen nie erklärt, dass:
- Wut unter der Geburt normal ist
- sie hormonell erklärbar ist
- sie nichts über ihre Bindungsfähigkeit aussagt
- sie keine „schlechte Mutter“ macht
Stattdessen bleibt ein Rest Scham.
Und Scham ist toxischer als jede Wut.
Was hätte man dir sagen sollen (aber kaum jemand tut)
Ich sag’s dir jetzt. Klar, ehrlich und ohne rosa Schleier:
Du darfst unter der Geburt laut sein.
Du darfst fluchen.
Du darfst wütend werden.
Du darfst Grenzen setzen.
Du darfst Kontrolle verlieren, ohne dich zu verlieren.
Geburt ist kein "Benimm-Dich-Wettbewerb".
Sie ist ein Übergang.
Ein Ausnahmezustand.
Ein neurohormoneller Sturm.
Wut & Geburt – das weiß kaum jemand
Adrenalin-Spikes kurz vor der Austreibungsphase sind evolutionär sinnvoll – sie mobilisieren letzte Kraftreserven.
Oxytocin und Adrenalin arbeiten nicht gegeneinander, sondern wellenartig zusammen.
Unterdrückte Wut kann den Geburtsverlauf verlängern, weil der Körper in einen inneren Konflikt gerät.
Freigegebene Emotionen (auch Wut) können paradoxerweise Entspannung und Öffnung fördern.
Und jetzt ehrlich, von Frau zu Frau
Wenn du dich in diesem Text wiedererkennst –
dann nicht, weil mit dir etwas nicht stimmt.
Sondern weil dein Körper klüger war, als man dir je erklärt hat.
Und genau dafür gibt es diese Serie.
Geburt ohne Filter.
Nicht, um Angst zu machen.
Sondern um endlich die Wahrheit auszusprechen!
FAQ
Ist Wut unter der Geburt wirklich normal?
Ja. Und zwar häufiger, als darüber gesprochen wird.
Wut ist unter der Geburt eine normale neurobiologische Reaktion auf extreme körperliche, hormonelle und emotionale Belastung. Sie entsteht besonders dann, wenn das Nervensystem in einen archaischen Überlebensmodus schaltet. Das hat nichts mit mangelnder Kontrolle oder „Schwäche“ zu tun – sondern mit Funktion.
Bedeutet Wut unter der Geburt, dass etwas schiefgelaufen ist?
Nein.
Wut ist kein Hinweis auf eine schlechte Geburt, sondern oft ein Zeichen dafür, dass dein Körper sehr intensiv arbeitet. Problematisch wird es meist erst danach, wenn diese Wut nicht eingeordnet wird und Scham oder Schuldgefühle entstehen.
Kann Wut den Geburtsverlauf negativ beeinflussen?
Nicht grundsätzlich.
Kurzzeitige Wut oder emotionale Ausbrüche können sogar kraftmobilisierend wirken.
Belastend wird es eher dann, wenn Wut unterdrückt wird oder wenn Frauen das Gefühl haben, ihre Reaktionen seien „falsch“. Das kann inneren Stress erzeugen und die Geburt erschweren.
Warum trifft Wut unter der Geburt besonders hochsensible Frauen?
Hochsensible Frauen verarbeiten Reize intensiver und haben ein besonders fein abgestimmtes Nervensystem. Unter der Geburt können Geräusche, Berührungen, Stimmen oder Eingriffe schneller als Überforderung erlebt werden. Wut ist dann eine klare Schutzreaktion des Körpers – kein emotionaler Kontrollverlust.
Hat Wut unter der Geburt etwas mit Trauma zu tun?
Manchmal, aber nicht immer.
Unverarbeitete Erfahrungen von Kontrollverlust, Grenzüberschreitung oder früheren medizinischen Eingriffen können unter der Geburt reaktiviert werden. Das bedeutet nicht automatisch, dass ein Trauma „zurückkommt“ – sondern dass der Körper alte Schutzmechanismen aktiviert.
Ich habe Dinge gesagt oder getan, die mir heute peinlich sind – ist das schlimm?
Nein.
Unter der Geburt ist das bewusste Denken stark reduziert. Dein Gehirn arbeitet in einem instinktiven Modus. Worte, Reaktionen oder Ausbrüche spiegeln keinen Charakter wider – sondern einen Ausnahmezustand. Entscheidend ist nicht das Verhalten, sondern wie es danach eingeordnet und verarbeitet wird.
Kann Wut unter der Geburt die Bindung zu meinem Baby beeinflussen?
Nein.
Es gibt keine wissenschaftlichen Hinweise, dass Wut unter der Geburt die Mutter-Kind-Bindung negativ beeinflusst. Bindung entsteht über Zeit, Nähe, Regulation und Beziehung – nicht über einzelne emotionale Momente im Kreißsaal.
Wie kann ich mich vorbereiten, ohne Angst vor Kontrollverlust zu bekommen?
Indem du nicht versuchst, alles zu kontrollieren, sondern verstehst, was in deinem Körper passiert. Wissen über Nervensystem, Hormone und emotionale Reaktionen hilft vielen Frauen mehr als starre Geburtspläne. Vorbereitung heißt nicht: ruhig bleiben um jeden Preis – sondern sich selbst ernst nehmen.
Wann sollte ich Unterstützung suchen?
Wenn:
- dich die Erinnerung an die Geburt stark belastet
- Schuld oder Scham nicht nachlassen
- Wut oder innere Unruhe lange anhalten
- du merkst, dass etwas „stecken geblieben“ ist
Dann ist es sinnvoll, mit einer fachkundigen Begleitung zu arbeiten, die nervensystem- und traumasensibel ist.
Warum spricht man so selten über Wut im Kreißsaal?
Weil Wut nicht in das gesellschaftliche Bild von „sanfter Mutterschaft“ passt.
Sie ist unbequem, laut und schwer kontrollierbar – besonders bei Frauen.
Genau deshalb ist es wichtig, sie sichtbar zu machen und einzuordnen.
Hinweis:
Dieser Artikel dient der Information, Einordnung und emotionalen Entlastung. Er ersetzt keine medizinische, psychotherapeutische oder hebammliche Beratung. Jede Schwangerschaft und jede Geburt ist individuell. Bei individuellen Fragen oder Beschwerden wende dich bitte an deine Hebamme, Ärztin oder einen anderen qualifizierten Ansprechpartner.
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Autorin: Bettina Müller-Farné, Gründerin des Liebenswert-Magazins
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